Inhaltsverzeichnis

Irritationen in Poseidons Küche

Die unverfügbare Geschichte

Zwei Souveräne

Über den Sternen

Zwischen Predigt und Tat

Eingefroren im Eis

 

 

Irritationen in Poseidons Küche

Die Erwärmung des Klimas verändert auch die Meeresströme im Arktischen Ozean

 

Eine junge Frau steht an Deck des Forschungseisbrechers Polarstern, im orangefarbenen Overall, Schutzhelm, Walkie-talkie zur Hand und wartet auf ihren Einsatz. Die Schottflügel im Schanzkleid sind geöffnet. Der Blick ins schwarze Auge ungeheurer Tiefen kann einen das Gruseln lehren. 4000 Meter bis zum Meeresboden. „Werden wir drei Stunden brauchen“, sagt Sandra Tippenhauer. Am Kranhaken ein Gestell mit vierundzwanzig schlanken Wasserschöpfern, die Routinesonde der Meereskundler, die sie beschönigend „Rosette“ nennen. Eine Sensoreinheit misst Conductivity (elektrische Leitfähigkeit), Temperature, Depth. Aus diesen Werten kann der Salzgehalt des Wassers bestimmt werden.

„Fier ab!“ befielt der Kapitän über Funk.

„Gerät geht zu Wasser!“

Sandra Tippenhauer eilt zum Windenleitstand, um auf dem Display den Lauf der Rosette zu verfolgen und in unterschiedlichen Tiefen die Wasserschöpfer per Mausklick zu öffnen.

Ein andermal, weit im Norden, fliegt Benjamin Rabe im Hubschrauber über dichtes Eis. Er sucht eine massive Scholle, auf der eine Boje ausgesetzt werden kann. Sie soll mit dem Eis in Richtung Grönland driften. Hier hängen die Sensoren an einem Draht im Wasser. Sie messen autonom und die Daten werden via Satellit ins heimatliche Institut gesendet.

Zwei Episoden, die das schwierige Geschäft der Ozeanographen verdeutlichen. Dazu kommen Verankerungen am Meeresboden, die an ausgewählten Orten über ein Jahr lang die Wassersäule vermessen und wieder geborgen werden.

Vom Eis war in letzter Zeit viel die Rede: dass die ganzjährig bedeckte Fläche pro Dekade mehr als zehn Prozent schrumpft, dass es dünner wird. Aber wie verhalten sich die Wassermassen unter dem Eis und in den Randmeeren, wenn die Temperaturen steigen? Ein im wahrsten Sinne vielschichtiges Thema, denn wir dürfen uns den Ozean nicht als ein homogenes Wasserbecken vorstellen. Er ist durch Strömungen gekennzeichnet. Ihre Dynamik zu erkunden ist ein Hauptanliegen des Alfred-Wegener-Instituts (AWI) für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven.

Wegen ihrer Bedeutung für das Klimasystem stehen die polaren Ozeane verstärkt im Mittelpunkt Forschung. Dabei zeigen sich in Arktis und Antarktis deutliche Unterschiede. So stiegen die atmosphärischen Temperaturen in der Arktis etwa dreimal so stark an wie im globalen Mittel. Wirkt sich das auf die Meeresströme aus? „Zur Zeit wissen wir noch wenig darüber“, sagt Benjamin Rabe. „Aber zum Teil hat sich das Strömungsverhalten geändert, weil das vor allem über die Framstraße eingespeiste atlantische Wasser wärmer ist als noch Ende der 90er Jahre.“

Die Framstraße ist die Tür zum Arktischen Ozean, die einzige Tiefenwasserverbindung zwischen Nordatlantik und dem riesigen Meeresbecken um den Nordpol. Ein- und Ausgang: 2600 Meter tief, etwa 300 Kilometer breit. Sie befindet sich zwischen dem nördlich von Spitzbergen liegenden unterseeischen Yermak-Plateau und Grönland. An der östliche Seite dieses Grabens strömt drei bis sechs Grad Celsius „warmes“ Wasser nach Norden, auf der Westseite minus 1,8 Grad Celsius kaltes, von Eis bedecktes Wasser nach Süden in den Nordatlantik zurück, wo es sich bis zum Meeresboden herabmischt, denn kaltes Wasser ist schwerer als warmes, und wo es wie eine Pumpe die globale Ozeanzirkulation antreibt.

Zwischen Alaska und dem östlichen Zipfel Sibiriens, gibt es noch ein kleines Fenster, die Beringstraße, durch die pazifisches Wasser in den Arktischen Ozean gelangt. Aber sie ist nur etwa 50 Meter tief, sodass der Nachschub zwar auch den marinen Kreislauf beeinflusst, aber dominant für das Geschehen ist der Framstaßenstrom (sechs Millionen Kubikmeter pro Sekunde hat man errechnet). Deshalb hat das AWI seit 1997 mit Strömungsmessern und anderer Technik den Puls der Framstraße aufs penibelste registriert. Dabei zeigte sich, dass die nach Norden strömenden Wässer in den letzten dreißig Jahren um ein bis zwei Grad wärmer geworden sind. Das hört sich nach wenig an, aber wir müssen die Zahl in Relation zu den großen Wassermassen sehen. Die in den Tiefen gespeicherte Energie würde ausreichen, Europa um fünf bis sechs Grad Celsius zu erwärmen. Dieser „Input“ entscheidet wesentlich mit, wie sich die Wassermassen verhalten.

Die Wege des atlantischen Wassers durch den Arktischen Ozean erscheinen zunächst etwas verwirrend. Aber in der Arktis funktioniert nicht, was wir in der Schule gelernt haben: dass warmes Wasser stets obenauf liegt. Hier bestimmt er Salzgehalt die Höhenunterschiede. Da atlantisches Wasser einen hohen Salzgehalt von etwa 35 Gramm pro Kilogramm hat, ist es schwerer als das Oberflächenwasser; es strömt in einer Tiefenschicht zwischen 200 und 1000 Meter durch den Ozean. Und zwar bevorzugt nach Norden. Der Framstraßenstrom durchquert die arktischen Becken, kehrt aber weit im Osten, am sibirischen Ende des Lomonossowrückens, um und strömt zurück nach Grönland und in die Framstraße. Ein Ast biegt jedoch in den Beaufort-Wirbel des amerikanischen Sektors ein, wie Salz- und Temperaturanalysen gezeigt haben. Ein anderer Teil strömt schon südlich von Spitzbergen in die Barentssee, kühlt fast bis zum Gefrierpunkt ab und sinkt deswegen bis zum Boden in 300 Meter Tiefe.

Diese natürlichen Gegebenheiten mussten erst einmal erkannt werden, und die Wissenschaftler des AWI haben erheblichen Anteil daran, denn es fahren nicht viele Schiffe so regelmäßig wie Polarstern ins Eismeer. „Es hat lange gedauert, bis wir die Zirkulation verstanden haben“, sagt Rabe. Hinzu kommt, dass wir uns die Strömungen nicht als separierte Flusslinien vorstellen dürfen. Es gibt sowohl seitliche Vermischungen als auch vertikale mit oberflächennahem Wasser, etwa über den Schelfmeeren, wo zahlreiche Flüsse Süßwasser eintragen. Dadurch entsteht vor Ostsibirien ein salzarmer Strom, der das atlantische Wasser überlagert. Wiederum reichert sich Salz in den oberen Lagen an, wenn das Wasser im Winter zu Eis gefriert, denn Eis ist im Wesentlichen „süß“.

Alle diese Prozesse führen dazu, dass im zentralen Arktischen Ozean relativ salzarmes, kaltes Wasser obenauf liegt, im Vergleich dazu wärmeres, salzreiches Wasser darunter. Dazwischen bildet sich eine Grenzschicht, die sogenannte Halokline, die verhindert dass der atlantische Einstrom an die Oberfläche gelangt. (Wenn es nach oben käme, würde sich ja kein Eis bilden.)

Das Überraschende und vielleicht Alarmierende“, sagt Benjamin Rabe: „In vergangenen Jahrzehnten entstand diese Grenzschicht am Beginn der arktischen Zirkulation, nämlich nördlich von Spitzbergen, wo das atlantische Wasser einströmt, allmählich abkühlt, sich zwar noch vermischen konnte, aber als eine tiefere Schicht in die Wassersäule einfügte. Diese Bedingungen haben sich in den letzten zwanzig Jahren weit nach Osten verlagert, sodass wir heute in der nördlichen Laptewsee ähnliche Verhältnisse haben, wie sie einst vor Spitzbergen herrschten.“ Der Salzgehalt an der Oberfläche hat sich dort erhöht, sodass er sich zwischen Oben und Unten weniger unterscheidet. Deswegen prägt sich die Grenzschicht, die wie eine Barriere wirkt, weniger stark aus oder wird überhaupt erst vor Ostsibirien gebildet. „Das bedeutet, dass atlantik-ähnliche Bedingungen in die Arktis hineingetragen wurden und werden. Wir nennen das Atlantifizierung“, sagt Rabe.

Welche Folgen das für Flora und Fauna hat, ist erst andeutungsweise erkannt. Bilder und Messungen am Meeresboden haben gezeigt, dass die Tiefsee der zentralen Arktis keine öde Wüste ist, sondern dass oft enorme Ansammlungen von Seegurken, Schwämmen, Haarsternen und Seeanemonen auftreten, die sich hauptsächlich von Eisalgen ernähren. Die Artenvielfalt könnte zunehmen. Andererseits: Als der Biologe Hauke Flores ein neuartiges Untereis-Schleppnetz aus dem Wasser zog, war er erstaunt, viele Polardorsche darin zu finden, die an das Leben unter dem Eis angepasst sind. Stirbt der Polardorsch aus, wenn es kein Eis mehr gibt? Oder die Kieselalge Melosira arctica, die sich zu meterlangen Ketten fügt? Durch die starke Eisschmelze sinken wahre Tangwälder zu Boden.

Dass die Eisdecke im Sommer so stark schrumpft, erklärt sich zwar vornehmlich durch den Anstieg der atmosphärischen Temperaturen und dadurch, dass sich Windsysteme (Hoch-und Tiefdruckgebiete), anders ausprägen. Der Schwund, den die Forscher auf ihren Fahrten und über Satellit beobachten, ist noch krasser als die heikelsten Computersimulationen aussagen. Allein die schnelle Reduktion der Treibhausgase kann diesen Trend mildern. Dennoch haben die Veränderungen im Ozean ähnliche Auswirkungen wie die Erwärmung der Luft. Die Laptewsee, stets als Geburtsbecken des Eises betrachtet, wo Polarstern im Sommer 2011 noch gegen mehrjähriges Eis ankämpfen musste, war danach weitgehend offen. Das neu gebildete winterliche Eis in dieser Region ist gerade mal ein Meter dick und somit dreißig Prozent dünner als die Jahre zuvor. Aber die Atmosphärendaten zeigten im Beobachtungszeitraum keine Auffälligkeiten. Die Antwort muss also im Ozean liegen.

Außergewöhnlich hohe Wassertemperaturen waren, so weiß man heute, mit atlantischen Wassermassen aus der Tiefe aufgestiegen. Zugleich sammelt sich das Süßwasser der Flüsse an der Oberfläche. Der Süßwassergehalt des oberen Arktischen Ozeans hat seit den 1990er Jahren um etwa zwanzig Prozent zugenommen. Das verstärkte Schmelzen des Eises im Sommer hat diesen Trend verstärkt. Wenn sich dann das Wasser tiefer vermischt, gelangt Wärme in den oberen Bereich, sodass entweder Eis auch von unten schmilzt oder es wird weniger Eis gebildet. Die eisfreie Zeit hat sich in den östlichen Region von einem auf drei Monate ausgedehnt.

Ja, wir haben schon gemessen, dass und wie Eis von unten schmilzt“, sagt Rabe. „aber es liegen noch nicht genug Daten vor, um die Beobachtungen verallgemeinern zu können.“ Auch bei der Frage, ob die globale Erwärmung (abgesehen von der höheren Temperatur der eingetragenen Atlantikwässser) ganz unmittelbar einen Einfluss auf die Zirkulation der Meeresströme hat, ist Rabe vorsichtig, weil noch flächendeckende Messungen fehlen. Aber die Wissenschaftler scheinen sich darin nicht einig zu sein. Bereits 2004 fehlte vom pazifischen Wasser, das bisher mit einem Zweig des atlantischen Stroms in die Framstraße gelangte, jede Spur, auch 2008. Gerhard Kattner, Leiter der damaligen Expedition, bemerkte dazu: „Plötzlich fanden wir kein pazifisches Wasser mehr, das über die Beringstraße in den Arktischen Ozean gelangt, wie wir es stets vor Nordostgrönland geortert haben. Ein deutlicher Hinweis, dass sich das Strömungssystem, abhängig von vielerlei Faktoren, verändert.“

 

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Die unverfügbare Geschichte

 

H. D. Kittsteiner provoziert die Aktivisten des Jetzt-oder-Nie

Von Jens Grandt

Wer über die Zumutungen des Lebens nüchtern nachdenkt, der geht in dem Gesellschaftsspiel „Mein linker, linker Platz ist frei“ leer aus. Heinz Dieter Kittsteiner, spätberufener Professor für Neuere Geschichte und Kulturgeschichte an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder), setzte sich „buchstäblich zwischen alle Stühle“ heißt es im Vorwort einer Positionsbestimmung. Das Kondensat einer hochkarätigen Tagung, die von der Viadrina und dem Berliner Verein Helle Panke 2016 anberaumt worden war, liegt nun vor – die erste Veröffentlichung, die Kittsteiners Werk gewidmet ist.

Als den „nachdenklichsten Historiker seiner Gegenwart“ hat Jürgen Kaube, Herausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, Kippsteiner einmal bezeichnet, und der Germanist Helmut Lethen verehrte ihn als „das einzige Genie, das ich in meinem Leben treffen durfte“. Was ist so faszinierend an dem radikalen Alt-68er, der sich von den damaligen Intentionen losgesagt hat? Ein unglaublicher Wissenshorizont, sein kritischer Verstand, der Aufbruch in eine neue, ungewohnt objektivistische „Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie“, um die Welt des „Anthropozän“ zu verstehen. Er missachtete disziplinäre Grenzen. Demzufolge hat er sich einer fast verwirrenden Vielfalt von Themen zugewandt und dadurch die Fachwelt provoziert.

Weil Kittsteiner versuchte, sich von der traditionellen Geschichtsauffassung zu lösen, die darauf hinausläuft, der Geschichte hier immer in ihren großen Zügen, als umfassende Konstante verstanden – einen Sinn zu unterlegen, ist er wenig rezipiert worden. Denn das lief auf eine Neubestimmung der Marxschen Geschichtstheorie und -kritik hinaus. Weshalb er weder bei den Kanonisierern marxistischen Denkens noch bei den Anti-Marxisten auf Gegenliebe stieß.

Moritz Neuffer hat in seinem Referat den konfliktreichen Weg des jungen Kittsteiner sehr quellennah erschlossen, und weil stets in den Anfängen schon die Keime späterer Geistesfrüchte wurzeln, können wir seinen Ausführungen folgen. Buchrezensionen und Essays, die Kittsteiner für die linken Zeitschriften alternative und Berliner Hefte, dem „Läuterungsorgan“ (Lethen) der 68er Linken, geschrieben hat, zeigen zunächst, wie er sich von der Instrumentalisierung historischer Schriften für gegenwärtige Anliegen distanziert. Ideen der Vergangenheit seien nicht unmittelbar auf die Gegenwart übertragbar. Er knüpft an Marx’ Thesen an, über dessen Geschichtsauffassung kommt er aber ins Grübeln.

Die verehrten Väter des wissenschaftlichen Sozialismus, die so grandios den Hegelschen „Weltgeist“ als „Weltmarkt“ entmystifizierten, hätten sich, so Kittsteiner, auch nicht von der spekulativen Geschichtsphilosophie lösen können, die einem „vernünftigenZweck folgt, etwa einem (wie auch immer definierten) Fortschritt. Ihrem Topos vom „historischen Beruf“ des Proletariats als vermeintlichen Totengräber des Kapitalismus, später als „Mission“ der Arbeiterklasse deklariert, sei ebenfalls ein ihr eingeschriebenes Ziel unterlegt, auf das sie hinausläuft, dem, was die Fachleute Teleologie nennen.

Hier setzt Kittsteiners kritische Auseinandersetzung mit Marx und Engels an. Sie konnten oder wollten sich nicht von einer Bestimmtheit des Verlaufs von Geschichte lossagen, sodass der im religiösen Glauben konstituierende Messianismus quasi in säkularer Gestalt der marxistischen Geschichtsphilosophie innewohnt. Das hat auch Jacques Derrida in „Marx’ Gespenster“ deutlich herausgearbeitet. Die Analyse marxistischen Typs erscheine unzureichend, wo sie „selbst eine messianische Eschatologie in sich schließt und in sich schließen muss“. Es sei eine Verheißung, die frohe Botschaft, das „Komm!“ gegenüber der nicht einsehbaren Zukunft, „das nicht das ‚Was auch immer‘ sein darf“.

Kittsteiner gelangt aufgrund seiner Studien zu der Ansicht von der „Unverfügbarkeit des historischen Prozesses“. Es ist bedauerlich, dass kein Referat die Argumentationslinie bis hin zu dem neuen Begriff verfolgt; sie ergibt sich aus der Gesamtschau. Bereits in einer frühen Besprechung der Schriften von Georg Forster findet sich seine Distanz zu vorsätzlichen Eingriffen in den Verlauf der Geschichte. Forster habe als Deputierter der Mainzer Republik 1792 in einem Land „in dem selbst keine revolutionäre Praxis stattfindet“ eine Revolution nach französischem Vorbild bewirken wollen; „qua Vernunft“ sollte ein gesellschaftlicher Zustand hergestellt werden, der unzeitgemäß war. Deshalb musste die Mainzer Republik scheitern.

Es geht Kittsteiner immer um die Frage nach den Möglichkeiten geschichtlichen Handelns – eine Frage, die uns heutzutage genau so umtreibt wie einst die deutschen Aufklärer, die proletarischen Aktivisten, Sozialdemokraten und Kommunisten. Die Akteure aller, rechter wie linker, Orientierung glaubten, Geschichte „machen“, will heißen nach ihren Vorstellungen gestalten zu können. Das hält Kittsteiner für illusorisch. Gewiss spiegeln sich in dieser Einsicht Enttäuschungen über den faden Ausgang der 68er Revolte wider. In der Auseinandersetzung mit dem auf Marx beruhenden Geschichtsbegriff von Walter Benjamin geht er generell auf das unheilvolle Potential geschichtsphilosophischer Utopien ein, die – vielfach gewaltsam – eine in ihrem Sinn „neue“ Welt zu erzwingen suchten. Die totalitären Machbarkeitsphantasien des 20. Jahrhunderts, Nationalsozialismus und Stalinismus, sind die krassesten Beispiele dafür. Allen Utopien und Fiktionen stehen die historischen Möglichkeiten gegenüber. „Sein provozierendes Fazit lautet, dass die Menschheit mit der nicht machbaren Geschichte angstfrei zu leben lernen müsse“, resümieren die Herausgeber des Bandes.

Hier darf man fragen, ob Kittsteiner seine These von der Unverfügbarkeit der Geschichte nicht zu absolut gesetzt hat. Wirkt solch ein Leitspruch nicht hemmend? (Und der Kulturhistoriker war in den letzten Jahren auch recht depressiv, er ist 2008 gestorben.) Wolfert von Rahden bezweifelt in seinem Beitrag die Allgemeingültigkeit einer „harten“ Unverfügbarkeit von Geschichte. Konsequent buchstabiert betone sie „des Menschen strukturelle Ohnmacht vor historischen Prozessverläufen“. Auf kürzerer oder mittlerer Reichweite sei die politische Handlungsmacht von Subjekten jedoch nicht auszuschließen, wie gegen die Logik des Marktmechanismus durchgesetzte und durchzusetzende klimarelevante Regularien zeigen.

Doch wir dürfen Kittsteiners Abschied von der „heroischen“ Geschichtsphilosophie nicht als Fatalismus deuten. Er hat in vielen Polemiken konkrete Vorschläge unterbreitet, wie der bundesdeutschen Misere beizukommen sei. Vielmehr lag ihm daran, über die „Objektivität von objektiven Prozessen“ als theoretische Voraussetzung für politisches Handeln aufzuklären. Ein Handeln, das erforderlich und unter Umständen erfolgreich ist, das sich aber nicht auf „historische Gesetze“ berufen kann.

Das hat für die Tagespolitik enorme Konsequenzen, auch für die Linken. Zwingend ergibt sich daraus: Es hat keinen Sinn, sondern schadet nur, wenn zur Unzeit, noch dazu in einer restaurativen Phase, nicht realisierbare Dinge gefordert und zu realisieren versucht werden. Das ist ein Hieb gegen die Hitzköpfe und Fundamentalisten, die es damals, als Kittsteiner noch Mitglied einer kommunistischen Splittergruppe war, gab und die es heutzutage und vermutlich immer wieder unter Linken gibt.

Was aber treibt nun die Geschichte an? Sie steht ja nicht still. Nach dem Studium zur Kritik der politischen Ökonomie von Karl Marx schlussfolgert Kittsteiner, nicht „der Mensch“, in welcher organisierten oder weniger organisierten Weise auch immer, nicht ein Subjekt prägt den historischen Prozess, sondern das Kapitalverhältnis, worin der Mensch eingebunden ist (G – W, d.h. auch Arbeitskraft – G’), eine über den Menschen stehende fremde gesellschaftliche Macht ist in der „modernen“, globalisierten Gesellschaft die Triebkraft. Kapital und Weltmarkt waren ihm unhinterfragbare Basis nicht nur des Geschichtsverständnisses, sondern auch einer neu zu schreibenden Kulturgeschichte – ein Gebiet, das in mehreren Beiträgen des Kolloquiumbandes ausgiebig erschlossen wird.

Die traditionelle Geschichtsphilosophie und -politik war laut Kittsteiner nicht bereit (und ist es heute noch nicht), das Kapitalverhältnis als Geschichtsverhältnis zu verstehen. Er sieht in der vorgeblich exakten bürgerlichen Sozialwissenschaft genauso eine parteiliche Wissenschaft als „Ideologiespender“ wie in der marxistisch-leninistischen Historiographie. Zu erkennen sei nur, dass Geschichte nach wie vor „noch ein naturwüchsiger Prozess hinter dem Rücken der Individuen“ ist. Und dass das „Subjekt der Geschichte“ nicht eine Arbeiterklasse (eine Mulditude, identitäre Bewegung oder was immer), sondern „das Kapitalverhältnis in seiner historischen Ausprägung als Weltmarkt“, das den Klassenkampf impliziert.

Mit diesen Gedanken wendet sich Kittsteiner von der subjektivistischen Konzeption der Geschichte ab. Der Analytiker des Kapitalismus war unentschieden, denn in Marx’ Schriften gibt es zwei Subjektbegriffe: Einerseits den Menschen als historisches Subjekt, andererseits den Verwertungsprozess des Kapitals. „Die nichtrevolutionäre Seite seiner Theorie hat ihre Gültigkeit behalten“, schreibt Kittsteiner, „die revolutionäre ist dahin.“

Dies anzunehmen wird den Marxisten alter Schule schwerfallen. Aber können wir uns heutzutage eine Revolution vorstellen? Wir leben in einem unheroischen Zeitalter und die entscheidende Frage ist, „ob man es schaffen wird, das mühsam erreichte Stadium der entheroisierten Geschichte zu wahren“, lesen wir in einem erstmals veröffentlichten Text. Keine Trivialität! Der völkische Flügel der AfD, Reichsbürger, Antisemiten aller Couleur gebären wieder „Helden“, die des Mordes fähig sind.

Die historische Situation hat sich radikal verändert. Eine Arbeiterklasse als Proletariat in der Form, in der sie Marx noch als eine mehr oder weniger homogene Kraft ansehen konnte, gibt es nicht mehr. Eine sich selbst regulierende Industrie gibt es auch nicht mehr. Die Verhältnisse und Wertbeziehungen müssen neu analysiert werden. Am ehesten scheint ihnen das Konzept der Transformation zu entsprechen, um das es leider sehr ruhig geworden ist und das sich auf Kittsteiner berufen könnte.

Geschichtsphilosophie nach der Geschichtsphilosophie. Perspektiven der Kulturgeschichte im Ausgang von Heinz Dieter Kittsteiner. Transcript Verlag, Bielefeld, 343 Seiten, 42 Euro.

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Zwei Souveräne

Wie Marx und Engels für das liberale Bürgertum kämpften

 

Nichts ist so langweilig wie die Zeitung von gestern, heißt es zuweilen. Mag sein. Man kann die Aussage aber auch umkehren: Nichts ist so interessant wie die Zeitung von (vor-)gestern. Der Verlag de Gruyter hat den zweiten von drei Bänden mit Beiträge herausgebracht, die Karl Marx, „Redakteur en chef“, und Friedrich Engels vornehmlich für die in Köln ansässige „Neue Rheinische Zeitung“ während der deutschen Revolution 1848/49 geschrieben haben.

Die Situation war angespannt. Auf der Worringer Heide in der Nähe von Köln hatte die wahrscheinlich größte rheinpreußische Kundgebung der Revolutionszeit stattgefunden. Fast 10 000 Teilnehmer bekannten sich „für die Republik, und zwar für die demokratisch-soziale, für die rothe Republik“, wie es in der NRhZ hieß. Sogar in Paris wurde darüber berichtet. Die Folge war eine Verhaftungswelle. Friedrich Engels und einige andere wurden steckbrieflich gesucht.

Zudem verbreitete sich die Nachricht von einem Truppenaufmarsch. Spontan wurden auf und um den Marktplatz Barrikaden errichtet. Der Festungskommandant rief den Belagerungszustand aus. Die Bürgerwehr wurde entwaffnet. Der Justizminister ordnete Untersuchungen gegen die Zeitung an; sie mussten ihr Erscheinen zeitweilig einstellen.

Entschieden war noch nichts. In Berlin tagte die von den (männlichen) Bürgern gewählte Nationalversammlung, die eine Verfassung ausarbeiten sollte, sich aber nicht festzulegen vermochte, ob sie gemäß dem Prinzip der Volkssouveränität frei handlungsbefugt sei. Im Artikel „Die Berliner Krisis“ umreißt Karl Marx in klaren Sätzen den Konflikt: Einerseits der König auf der Grundlage seiner „angestammten gottesgnadlichen Rechte“. Auf der anderen Seite die „Nationalversammlung auf gar keiner Grundlage, sie soll [sich] erst konstituiren, Grund legen. Zwei Souveräne!“Als Mittelglied die Vereinbarungspolitik des Ministeriums Camphausen gegenüber der Krone. „Sobald die beiden Souveräne sich nicht mehr vereinbaren können oder wollen, verwandlen sie sich in zwei feindliche Souveräne“. Die Revolution stand auf der Kippe.

Das war die Ausgangslage, als die NRhZ Mitte Oktober 1848 wieder erscheinen konnte. Es gelang, das Renommee der Zeitung deutlich zu steigern. Zuletzt hatte sie eine Auflage von 5600 Exemplaren und war ein deutschlandweit gelesenes Blatt. Dazu kamen noch „Zweite Ausgaben“, Beilagen und Extrablätter. Der hier besprochene Band erfasst im Hauptteil 157 und im Anhang fünf Dokumente, darunter 18 Erstveröffentlichungen sowie 40 Texte erstmals in deutscher Sprache. Es sind überwiegend Zeitungsartikel, aber auch die Verteidigungsreden von Marx und Engels vor dem Kölner Geschworenengericht und das Fragment des Reiseberichts „Von Paris nach Bern“, amüsante Beobachtungen und Reflexionen, die einmal mehr Friedrich Engels’ feuilletonistisches Talent bezeugen.

Historisch und ideengeschichtlich überraschend ist hier vor allem, dass Marx in dieser Phase nicht die vorpreschenden Arbeiterakteure unterstützt, sondern – von der Rezeption wenig beachtet – entschieden für das liberale Bürgertum Partei ergreift. Für ihn hat die deutsche Bourgeoisie eine revolutionäre Aufgabe; sie müsse aufgrund „ihrer veränderten Bedürfnisse“ eine „ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechende politische Stellung erzwingen“. In seinem politischen Agieren im Kreisausschuss der rheinpreußischen Demokraten und den Artikeln versuchte er, deren Position zu stärken.

Aber von den sogenannten Märzministerien, die sich ein „liberalbürgerliches Gewand der Contrerevolution umgeworfen“ haben, werden die linken Demokraten von Anfang an enttäuscht. Einer der Hauptangriffspunkte ist die „Vereinbarungstheorie“ des Ministeriums Ludwig Camphausen, derzufolge sich die verfassungsgebende Versammlung mit der Monarchie „vereinbaren“ sollte. Alle folgenden Ministerien (es gab allein 1848 vier verschiedene Regierungen in Preußen) übertrafen sich in ihrer Unterwürfigkeit vor den Altären der feudalen „Kamarilla“ – aus Angst vor einem konsequenten Vollzug der Revolution und den sozialen Forderungen der Kleinbürger wie der Arbeiterschaft. Die zur Machtübernahme prädestinierte „große“ Bourgeoisie habe „keine Hand gerührt“. „Träg, feig“ habe sie „dem Volke erlaubt, sich für sie zu schlagen“, schreibt Marx. Er polemisiert auch in einem weiteren Sinn gegen die deutsche Vereinbarungssucht, die in der Folgezeit dazu führte, dass das Land im europäischen Kontext vergleichsweise konservativ geprägt blieb.

In all diesen sich überlagernden, für viele undurchsichtigen Prozessen bleiben die Autoren streng sachbezogen. „Wir haben wiederholt erklärt, daß wir kein ‚parlamentarisches‘ Blatt sind und uns daher nicht scheuen, von Zeit zu Zeit den Zorn selbst der äußersten Linken von Berlin und Frankfurt auf unser Haupt zu ziehen“, betont Marx in einem Leitartikel. „Wir erwarten alles von den Kollisionen, die aus den ökonomischen Verhältnissen hervorgehen.“ Marx und Engels folgen einer Dialektik des Noch-Nicht und einer Kritik des Immer-Noch. Gerade deswegen sehen sie allein in den auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts zusammengesetzten Nationalversammlungen, trotz deren Wankelmütigkeit, die rechtmäßige Konstituante. Man muss dabei bedenken, dass Marx und Engels westeuropäisch sozialisiert sind. In der kompromisslosen Ermächtigung der Bourgeoisie, wie sie in England und Frankreich vonstattengegangen ist, sehen sie die einzig zeitgemäße Option für eine moderne Entwicklung der deutschen Teilstaaten. Um später auf dieser Basis eine soziale Revolution oder Transformation zu ermöglichen.

Am selben Tag, an dem der Artikel „Die Berliner Krisis“ erscheint, am 9. November 1848, verfügt König Friedrich Wilhelm IV., der „Romantiker auf dem Thron“ (D.F. Strauss), dass die preußische Nationalversammlung vertagt und nach Brandenburg verlegt wird. Unter General Wrangel rücken 15 000 Soldaten in die Hauptstadt ein, Belagerungszustand und Kriegsrecht werden erklär. Weil sich die Parlamentarier weigern, in die Provinz zu ziehen, wird die „Vereinbarerversammlung“ am 5. Dezember aufgelöst und die Monarchie verfügt eine Verfassung nach eigenem Gusto. Ein knallharter Staatsstreich.

Daraufhin bezichtigen die Berliner Abgeordneten das Ministerium des vom König eingesetzten Grafen Brandenburg des Hochverrats gegenüber der gewählten „Regierung der Nationalversammlung“. Sie rufen die Bevölkerung auf, keine Steuern mehr zu zahlen. Marx und Engels veröffentlichte diesen Beschluss, und die rheinischen Demokraten setzten noch eins drauf: Die gewaltsame Eintreibung von Steuern sei „überall durch jede Art des Widerstandes zurückzuweisen“. Das brachte der Zeitung umgehend eine Anklage wegen Hochverrats ein.

Das Gerichtsverfahren fand am 8. Februar 1849 statt. Marx versteht es in seiner Verteidigungsrede, nicht nur die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft gegen die gewählte Volksvertretung zu widerlegen, sondern seine gesamte Gesellschaftstheorie des Epochenwechsels darzulegen. Der Kampf zwischen Krone und Volk sei ein „Konflikt zweier Gesellschaften selbst“, der „feudal büreaukratischen mit der modernen bürgerlichen“. Die Geschworenen sprechen ihn und seine Mitangeklagten frei.

Während der Wahlen zum preußischen Parlament schrieb Marx glanzvolle Leitartikel, worin er die stets wörtlich zitierten Argumente der konstitutionell-monarchistischen Partei ad absurdum führte. Auch hier widerlegen die Dokumente ein bis zum heutigen Tag anhaltendes Missverständnis, nämlich dass er auf Wahlen nichts gegeben habe. Dabei wird Parlamentskritik mit Antiparlamentarismus verwechselt. Und wieder setzt er sich für die liberale („kleine“) Bourgeoisie und den Mittelstand ein. Die meisten Mitglieder des Kölner Arbeitervereins konnte er überzeugen, dass sie die bürgerlich-demokratischen Kandidaten wählen, was zu einer empfindlichen Niederlage der Konzeptionellen führte.

Selbstverständlich hatte die Neue Rheinische Zeitung nicht nur die deutschen Verhältnisse im Blick. Sie berichtete ausgiebig über die Aufstände in Wien, in Ungarn, Engels über die italienische Revolution und die Transformation des Schweizerischen Staatenbundes in einen Bundesstaat. Es finden sich sogar Betrachtungen über die Wirtschaft in Belgien, das Kreditsystem in Frankreich oder über Panslawismus. Die dominante Persönlichkeit in der Redaktion war unzweifelhaft der gerade mal 30-jährige Marx. Seine mit allerlei historischen und literarischen Anspielungen gespickten Artikel sind brillant geschrieben. Es ist auch und gerade heute, da politisch und gesellschaftlich vieles ganz neu ausgehandelt werden muss, höchst anregend, sich darein zu vertiefen.

Süddeutsche Zeitung, 25.1. 2021. Der Artikel, unter der Überschrift „Im Schatten der ‚Kontrerevolution‘“ (oder) „Zwischen Revolution und ‚Kontrerevolution‘“ eingereicht, wurde stark reduziert, um ihn auf eine Spalte zu bringen. Dadurch sind markante Aussagen verlorengegangen, und der Text ist auch ein bisschen „zahnlos“ geworden sind. (Redakteur Jens-Christian Rabe) Beispiel: Statt „Ein knallharter Staatsstreich“ stand im Print zu lesen „Ein Coup“. Ärgerlich.

 

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Über den Sternen

Die Galerie Nierendorf feiert ihr 100-jähriges Bestehen mit einer repräsentativen Jubiläumsschau

 

In der Anzahl der Galerien lässt Berlin alle anderen Hotspots der Bildenden Künste Deutschlands hinter sich. Dass allerdings eine von ihnen auf eine hundertjährige Geschichte zurückblicken kann wie die Galerie Nierendorf ist einmalig. Nicht nur für Berlin.

Die Jubiläumsausstellung repräsentiert einen Querschnitt durch die Bestände. Eine Wand zieht sofort den Blick auf sich: „Zwei kauernde Mädchen“ (1924) von Otto Mueller, flankiert von Plastiken des Villa-Roma-Preisträgers Gerhard Marcks: „Kleine Stehende“ und „Cenerentole“. Florian Karsch, der 2015 verstorbene Seniorchef und leidenschaftliche Sammler der Werke von Mueller, konnte auf einer Auktion in München nicht widerstehen und erwarb das teure Bild. Es stammt aus dem Besitz von Elsbeth Mueller, der zweiten Frau des Künstlers der berühmten „Zigeunermappe“, aus der „Zigeunerin mit Kind“ gewählt wurde.

Über Eck eine Reihe Otto Dix aus der frühen und späten Schaffensphase, darunter als Hommage an die Galerie das Aquarell „Josef Nierendorf mit Gelbsucht“ (1923). Ein Highlight ist Josef Scharls Ölbild „Albert Einstein“ (1944), in klaren Linien und kräftigen Farben markant gemalt und deswegen von starkem Ausdruck. Scharl war mit Einstein befeundet, er hat ihn mehrmals porträtiert. Nach dem Krieg war „dieser warmherzige und bedeutende Mensch“ (Einstein in der Grabrede) vergessen. Unter den Nazis hatte er Malverbot; einige seiner Werke hingen bereits in der ersten Ausstellung „Entartete Kunst“ 1933 in Nürnberg. Die Brüder Karl und Josef Nierendorf nach 1964 dann Florian Karsch haben Scharls Werk in insgesamt 15 Ausstellungen lebendig gehalten.

Ernst Barlach ist unter anderem mit der dritten Fassung der Lithographie „Sterndeuter“ vertreten, einem Selbstporträt und zwei Bronzen. Conrad Felixmüllers Zeichnung „Bildnis Hannah Höch“: eine Rarität, weil aus dem Jahr 1917, als die Dada-Künstlerin noch unbekannt war. Georg Grosz fasziniert mit einem Blatt aus „Ecce Homo“ (1919/20) und seinen scharfsinnigen, heiter-ironischen Federzeichnungen.

Unsichtbar, doch in den Bildern mitschwingend, die existenzielle Geschichte der Galerie. 1920 in Köln gegründet, hat sie von den gefragten Adressen der künstlerischen Avantgarde in der Weimarer Republik – Alfred Flechtheim, Herwarth Walden, Paul Cassirer – als einzige die finsteren Zeitläufte überlebt. Inmitten der Inflationsjahre „Neue Kunst“ anzubieten, war ein kommerzielles Wagnis, das der 1889 in Remagen am Rhein geborene Karl Nierendorf und sein jüngerer Bruder Josef einging. Neben Emil Nolde und Paul Klee konnten bald auch die Künstler der „Brücke“ ihre Werke zeigen. Eine besonders enge Verbindung der Galerie ergab sich zu Otto Dix, die bis zu dessen Tod anhielt.

1923 übersiedelte Karl Nierendorf nach Berlin, übernahm das angesehene „Graphische Kabinett“ von J.B. Neumann, stellte am Kurfürstendamm und am Lützowplatz aus. Der Bruder Josef führte Köln weiter. Es gab Dependancen in Düsseldorf, später in Los Angeles und vor allem die Galerie in New York. Fast alle von den Nierendorfs vertretenen Künstler wurden unter dem Nationalsozialismus verboten und drangsaliert. Es zeugt von außerordentlichem Mut, dass die Galerie noch 1935 Werke von Otto Dix zeigte und ein Jahr später Franz Marc mit einer Gedächtnisausstellung ehrte. Aber in Berlin war die Galerie unter den politischen Repressionen nicht mehr zu halten, sie musste 1939 geschlossen werden. Einen Großteil der Gemälde hat die SS vernichtet.

Karl Nierendorf warb nach seiner Emigration in den USA für moderne deutsche Kunstrichtungen. Die Ausstellung „Forbidden Art in the Third Reich“ war sensationell; sie wurde erst in der Galerie und dann im Institut of Modern Art gezeigt. 1947 starb Karl mit 58 Jahren. Da er kein Testament hinterließ, ging wegen des noch herrschenden Kriegsrechts der überwiegende Teil des in Amerika verbliebenen Nachlasses in die Bestände des Guggenheim-Museums ein. Die Galerie war zeitweise Alleinvertreter von Otto Dix, für die Werke Paul Klees und Karl Hofers in Amerika, für Ernst Barlach. Neben den Genannten gehörten Wassili Kandinsky, Lyonell Feininger, Franz Marc, Conrad Felixmüller zu den ständig offerierten, mitunter befreundeten Künstlern, später auch Ernst Ludwig Kirchner, Otto Mueller, Hanna Höch und viele andere.

1955 die Wiedergeburt unter Beibehaltung der Tradition. Meta Nierendorf, Ehefrau des ebenfalls verstorbenen Bruders Josef, und Florian Karsch, ihr Sohn aus erster Ehe mit dem Bildhauer Joachim Karsch, eröffnen in Berlin-Tempelhof, Manfred-von-Richthofen-Straße 14, in einem Buch- und Kunsthandwerkgeschäft wieder die Galerie. 1963 erfolgte der Umzug in die Hardenbergstraße am Bahnhof Zoo.

In der aktuellen Ausstellung markieren viele Werke diesen schwierigen Weg. Nicht zu übersehen, dass auch Künstler jüngerer Jahrgänge in das Programm aufgenommen wurden, etwa Manfred Butzmann, Kurt Mühlenhaupt oder Franz Xaver Fuhr. Man möchte gar nicht aufhören, die vielen Augenweiden zu benennen und zu beschreiben. Die Ausstellung begleitet ein großartiger Katalog, von Susanne Trierenberg konzipiert, mit Texten über die prägenden Künstler und zahlreichen dokumentarischen Fotos versehen. Bilder lesen, Lesend sehen – eine verdiente Würdigung.

Der Tagesspiegel, 19.9. 2020

 

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Zwischen Predigt und Tat

Friedrich Schleiermachers Briefwechsel reflektiert den antinapoleonischen Befreiungskrieg und die Restauration

Kommt einem heutzutage der Name Friedrich Schleiermacher in den Sinn, fällt die Klappe wie ein alter Sargdeckel: der Theologe, der Religion auf das Gefühl der Abhängigkeit von Gott zurückgeführt hat, ein Bahnbrecher des modernen Protestantismus. Aber das Schaffen und Wirken des Feldpredigersohns war so vielseitig, dass es mannigfaltige Deutungen zulässt. Er war nicht nur Seelsorger an der berühmten Berliner Dreifaltigkeitskirche, er war auch Philosoph, romantischer Ästhet, Platon-Übersetzer, Bildungsreformer und nicht zuletzt Praktiker des realen, auch politischen Lebens.

Diese Weitfächrigkeit ist wohl einer der Gründe, weshalb es immer noch keine gültige Biografie gibt. Erst anderthalb Jahrhunderte nach Wilhelm Diltey (1870) hat ein Kirchenhistoriker, Kurt Nowak, den höchst verdienstvollen Versuch gewagt, aus aktueller Sicht den „riesigen Stoff“ zu erfassen („Schleiermacher“, Verlag Vandenhoeck & Ruprecht, 2001). „Schleiermacher steht für eine Vielzahl von Wirkungsgeschichten“, schreibt Nowak. Andererseits sind in der großen Kritischen Gesamtausgabe noch nicht alle Schriften, Predigten, Vorlesungen veröffentlicht. Auch noch nicht alle Briefe. Jetzt liegt im Rahmen des Akademievorhabens „Schleiermacher in Berlin“ der vierte Briefband vor: 1813 bis 1816.

Eine hoch brisante Zeit. Die Heere Preußens, die nach langem Schwanken Kaiser Wilhelms III. mit Russland eine Allianz eingegangen waren, und Napoleons Grand Armée standen zu Beginn des Jahres 1813 im Patt. Der mit großen Hoffnungen auf die Etablierung einer fortschrittlichen liberalen Ordnung verbundene Befreiungskrieg stockte. Ein Waffenstillstand wurde vereinbart. In diese Monate fallen und aus dieser Situation erklären sich die ersten Briefe des Bandes.

Die Frustration über die Einigung mit Napoleon war allgemein. „Kommt ein Friede zu Stande … bleibt mir nichts übrig, als auf unbestimmte Zeit Deutschland Lebewohl zu sagen“, schreibt der befreundete Schriftsteller August Wilhelm Schlegel (Bruder Friedrich Schlegels). Dass Schleiermacher gegen den Waffenstillstand ist, überrascht nicht, hatte er sich doch schon 1808/09 in konspirativer Mission für die Reformpartei um Gneisenau und Scharnhorst eingesetzt, die einen Aufstand vorbereiten sollte. Jetzt feiert er von der Kanzel den Seitenwechsel des Generals Yorck von Wartenburg, predigt für die „Rückkehr zur Wahrheit“, wirbt in Berlin junge Leute für die Landwehr und soll, wie kolportiert wird, selbst fleißig exerziert haben.

Die patriotischen Kräfte befürchteten, dass der Scheinfriede zum Dauerzustand wird. Was dem Feudaladel durchaus recht gewesen wäre, denn die Angst vor der umfassenden Bewaffnung der Bürger, die in eine Revolution münden könnte – der Umsturz in Paris lag nur fünfzehn Jahre zurück –, veranlasste die monarchistische Kamarilla, jegliche Selbstermächtigung zu unterdrücken. Umso größer ist Schleiermachers Wut gegen die „Hofparthei“. Er hofft auf den König, auf dessen Einsicht, dass er ein gemeinschaftliches Band zwischen „Obrigkeit“ und „Untertanen“ knüpfe – „immer das Volk mit dem König, und der König mit dem Volk ...“

Dass Schleiermacher der Französischen Revolution insgesamt positiv gegenüberstand, hat erst die neuere Forschung zur Kenntnis genommen. Er focht für einen gewaltlosen Fortschritt. Sollte es jedoch der Obrigkeit an Vernunft fehlen, hielt Schleiermacher eine Revolution für gerechtfertigt.

Als verantwortlicher Redakteur des „Preußischen Correspondenten“ – eine Phase in seinem Leben, die bisher zu wenig reflektiert worden ist – bekam er schnell Ärger mit der Zensur. Dem „trügerischen Stillstand der öffentlichen Meynung“ (Schlegel) versucht er durch betont patriotische Berichte entgegenzuwirken und befand, dass man den befürchteten Friedensschluss „nicht als den wahren Anfang einer neuen Ordnung der Dinge ansehen könn(t)e“. Daraufhin wurde ihm unterstellt, zum Sturz der Monarchie aufgerufen zu haben. Sogar der König schaltete sich ein und mahnt „eine Tendenz … die ich durchaus nicht gestatten kann“. Friedrich Schleiermacher wurde des Hochverrats bezichtigt und sollte Berlin innerhalb von 24 Stunden Richtung Schwedisch-Pommern verlassen. Staatskanzler Karl August von Hardenberg, damals selbst zwischen Baum und Borke, mildert das Urteil in einen strengen Verweis, drohte aber, ein Wiederholungsfall würde „mit unfehlbarem Verlust seiner Dienststelle geahndet“.

Aber Schleiermacher widersteht. Er könne, erklärte er, seinen Autoren nicht vorschreiben, wie sie sich zu äußern haben, woraufhin ihm wieder Hardenberg die Levitten las (vier Jahre später verlangt er ein Vorlesungsverbot). Die Affäre, die sich in den Briefen wie ein Shitstorm spiegelt – und es folgen neue Beschuldigungen, er wurde bespitzel und verhört – hat Schleiermacher arg zugesetzt. Er sei in einem Jahr wenigstens zehn Jahre älter geworden, schrieb er an Georg Andres Reimer, den Verleger des „Preußischen Correspondenten“.

Nach dem Sieg über Napoleon begann die Zeit der Restauration der alten Verhältnisse. Schleiermacher ist untröstlich enttäuscht, fühlt sich leer und erschöpft. Wo blieben die Prinzipien der preußischen Reformer, wo die „Revolution im guten Sinne“? In einem langen Brief an den Grafen Alexander von Dohna schüttet er sein Herz aus. Er komme sich vor „als unter den meisten Menschen nicht passend mit meinen Ansichten. Ich vermisse überall das recht klare Hineinschauen in den Geist und die Forderungen der Zeit, das geschichtlich schöpferische Talent“. Er sehne sich danach, „noch einiges ausarbeiten zu können“ und vertieft sich in die großartig intendierte Ableitung der „Ethik“ aus der Dialektik.

Zur Ruhe kommt er in der von Staats wegen erzwungenen Apathie nicht. Schleiermacher ist Dekan der Theologischen Fakultät, 1815/16 Rektor der kurz zuvor gegründeten Berliner Universität, zeitweise Mitglied des Departements für Unterricht, Sekretär der Philosophischen Klasse der Akademie. Nach dem Pariser Frieden (1814) kann die Kirchenreform wieder in Angriff genommen werden. Er setzt sich leidenschaftlich für eine Synodalverfassung ein. Jedoch waren dem König die Eigenständigkeit und das Wahlrecht der Laien viel zu republikanisch, sodass er das zuständige Gremium in eine lediglich „Liturgische Kommission“ umwandelte. Gegenüber dem Theologen Joachim Christian Gaß klagt Schleiermacher, dass jeder der selbstgefälligen Herren „mit eigenen parasitischen Wurzeln am Thron und Hof festhängt“.

Überschauen wir das überaus konsequente Streben des „geistigen Haupts der Kirche seiner Zeit“ (Dilthey) für eine politisch-gesellschaftliche Erneuerung Preußens, so erweist sich Schleiermacher als der erste treibende Geist, der die bewusstseinszentrierte Spätaufklärung aus der Taufe hob, vorerst noch an den Gewissheiten heiliger Autorität orientiert.

Süddeutsche Zeitung, 21.8. 2020

 

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Das Forschungsschiff „Polarstern“ driftet von Westsibirien am Nordpol vorüber bis nach Grönland

Eingefroren im Eis

 

Es ist eine Expedition der Superlative. Tausende begeisterte Fans lesen im Internet die Wochenberichte und die Blogs, kommentieren sie, stellen Fragen. Noch nie hat ein moderner Eisbrecher mit einem weitläufigen Forschungscampus ringsum den gesamten Winter im nördlichen Eismeer zugebracht. In der ostsibirischen Laptewsee eingefroren, driftet das schwimmende Observatorium Polarstern am Nordpol vorbei bis zur grönländischen Küste. Etwa 600 Wissenschaftler und Techniker aus 20 Ländern sind beteiligt. Eine internationale Flotte von vier Eisbrechern versorgt die sich abwechselnden Teams. Es ist nicht übertrieben, wenn das Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (Bremerhaven), die Schaltzentrale des aufwendigen Unternehmens, von der „größten Arktisexpedition aller Zeiten“ spricht.

Am 20. September 2019 verlässt das deutsche Forschungsschiff den norwegischen Hafen Tromsø. Es ist 20 Uhr 30, der Himmel bedeckt, die Stimmung an Bord elektrisiert, voller Erwartungen. Die erste Crew wird von Markus Rex geleitet, einem Potsdamer Atmosphärenphysiker, der Anfang der 1990er Jahre die internationale Match-Kampagne (match, engl. Vergleich) angeregt und koordiniert hat, die den Anteil des vom Menschen verursachten Ozonverlustes in der Arktis quantifizieren konnte.

Die Suche nach einer geeigneten Eisscholle, gemeinsam mit dem russischen Eisbrecher Akademik Fedorov, gestaltet sich schwierig. Satellitenbilder werden ausgewertet, 16 Schollen mit Helikoptern angeflogen und beprobt. Schließlich macht Polarstern auf der Position 85°07' Nord 138°05' Ost an einer genügend massiven Scholle fest. Sie ist 2,5 mal 3,5 Kilometer groß, hat einen Kern dicht gepressten Eises und an den Rändern dünnere Bereiche.

Erste, mit einem natürlichen Risiko verbundene Herausforderung: der Aufbau des Forschungscamps. Eine „Infrastruktur“ mit Mess- und Probenahmestationen entsteht, die auch ihre Namen haben: OceanCity, Oasis, MetCity usw. Grüne Flaggen markieren die Wege. 5300 Meter Stromkabel, 2500 Meter Signalkabel müssen verlegt werden. Ein MI-8-Hubschrauber setzt den schweren Stromverteiler aufs Eis. Auf bis zu 40 Kilometer entfernten, fragilen Eisschollen wird ein komplexes System aus 125 Bojen und autonomen Messeinheiten ausgebracht. Deren Daten gelangen per Satellit direkt in die Computer. Auch diese Außenposten müssen mit Strom versorgt und manchmal repariert werden.

Ab Mitte Oktober ist es stockdunkel. Und das Eis ist ständig in Bewegung. Unmittelbar neben dem meteorologischen Mast reißt das „Fundament“, das eigentlich nur in der Fantasie existiert. Immer wieder bilden sich Risse, verschieben sich Schollenteile, krachen neulich aufeinander, sodass sich hohe Presseisrücken bilden. Teile des Stromnetzes werden begraben, sichere Wege blockieren. Bei der Station „Oasis“ haben Meeresphysiker mit viel Mühe ein 1,5 mal 1,5 Meter breites Loch ins Eis gebohrt, gesägt, geschlagen, damit sie einen ferngesteuerten Unterwasserroboter hinablassen können. Ringsum wird der Schnee weggeräumt, ein Holzboden gelegt, der als Fundament für das Schutzzelt dient. Wasserproben bis zur Tiefsee sollen entnommen, Salzgehalt, Chlorophyll, Lichtverhältnisse und mit der Kamera das Leben unter Eis untersucht werden. Aber über Nacht trennt ein Riss die Station von der Polarstern, sie treibt ab. Oasis muss per Helikopter gerettet und an anderer Stelle wieder aufgebaut werden.

Kein Team wird von den Naturgewalten verschont. Am 18. November verschiebt ein heftiger Sturm Bereiche des Eiscamps um Hunderte Meter. Der dreißig Meter hohe Teleskopturm der Meteorologen, unter großen Anstrengungen bei minus 35 Grad errichtet und sicher abgespannt, knickt um. Drei Stationen werden zeitweise vom Schiff getrennt. Über einen breiten Spalt muss eine Brücke gebaut werden. So mühsam alle Expeditionsteilnehmer, vor allem die Logistiker, nun Schäden beheben müssen – in wissenschaftlicher Hinsicht gehört der Sturm zu den Höhepunkten der Expedition. „Noch nie sind die Auswirkungen solcher Stürme auf die Stoffflüsse und das arktische Klima so umfassend dokumentiert worden“, sagt Markus Rex.

Dabei arbeiten alle nur im Licht der Suchscheinwerfer, so weit sie reichen, und im schmalen Kegel von Stirnlampen. Eine Infrarotkamera und Radaranlagen überwachen vom Schiff aus die Umgebung. Eisbärwächter sorgen dafür, dass die beliebten Fotomodelle sich wegen unbefriedigter Fresslust wieder trollen. Sobald ein weißer Petz auftaucht, müssen zumeist alle Mitarbeiter an Bord. Mancher Bär findet die Gerätschaften in seinem Lebensraum interessant und richtet allerlei Schaden an. Einmal knabbert sogar ein Polarfuchs an den Stromkabeln, sodass die meteorologische Station vom Netz getrennt wird.

Selbstverständlich wird die Tragfähigkeit des Eises ständig geprüft. Einerseits durch elektromagnetische Dickenmessungen – eine schweißtreibende Fußtour mit Sende- und Empfangsgestänge in der Hand, wie der Autor an der Seite von Christian Haas (Leiter des zweiten Fahrtabschnitts) erleben durfte. Andererseits mit dem sogenannten E-Bird, der an einem 30 Meter langen Seil per Hubschrauber über das Eis geflogen wird und wegen der tiefen Temperaturen geheizt werden muss. Mögen Statistiken für die Publikation noch genauer auszuwerten sein, als empirisches Ergebnis kann schon jetzt festgehalten werden: Es gibt kaum noch mehrjähriges Eis. Statt mindestens 1,5 Meter Eisdicke, wovon die Planung ausgegangen war, ist das Eis mit nicht einmal einem Meter ungewöhnlich dünn, wobei nach dem letzten warmen Sommer die untere Schicht schwammartig durchlöchert und wenig stabil ist. Solche Untersuchungen vor Ort sind unerlässlich, weil sie Bezugsdaten liefern, die erst eine korrekte Interpretation der Satellitenmessungen gewährleisten.

Der andere missliche Umstand: Wir reden in der Klimadiskussion von Zehntel Grad Erwärmung der Arktis im Winter. Verglichen mit den Temperaturen, die Fridtjof Nansen vor 125 Jahren gemessen  hat, liegen jetzt die Lufttemperaturen über der zentralen Arktis um fast zehn Grad Celsius höher. Das stimmt mit den jahrelangen Beobachtungen zum Beispiel in Spitzbergen (sieben Grad Erhöhung) überein.

Kaum eine Region der Erde hat sich in den vergangenen Jahren so stark erwärmt wie die Arktis. Und was dort geschieht, beschränkt sich nicht auf den Polarkreis. Die Klimaentwicklung auch in Europa hängt entscheidend vom Geschehen in der Wetterküche Arktis ab. Es geht im großen Ganzen wie im Detail darum, wie Wärme zwischen Ozean, Meereis und Atmosphäre abgegeben oder aufgenommen wird. Viele Geräte erstellen letztlich eine umfassende Energiebilanz. „Wir suchen nicht nach dem rosa Elefanten“, sagt Markus Rex. „Wir möchten die Prozesse verstehen. Das ist, wie wenn man ein Uhrwerk aufbaut. Da musst du nicht nur alle Rädchen und Federchen kennen, sondern auch ein Gesamtbild haben, wie alles zusammenwirkt. Irgendwann weißt du dann, wie die Uhr funktioniert.“ Deshalb wird das gesamte Ökosystem zwischen einer Höhe von 35 000 Metern und 4000 Meter Wassertiefe erkundet. Alle relevanten Fachbereiche sind beteiligt. Das Akronym der Mission konnte gar nicht besser gewählt werden: MOSAiC. Ausgeschrieben Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate (Multidisziplinäres Drift-Observatorium zur Untersuchung des arktischen Klimas).

Ende Januar bewegt ein anderes Ereignis die Gemüter: Innerhalb weniger Stunden steigt die Temperatur von minus 27 Grad auf minus zehn Grad. Tags darauf sinkt sie auf minus 35 Grad. Ein Sprung von 25 Grad! Unter anderem mit Laserlicht wird gemessen, wie die warme Luft aus dem Süden die Zusammensetzung der Spurengase und der Aerosole verändert. Zum ersten Mal konnte solch ein Einstrom in die winterliche Zentralarktis vor Ort analysiert werden. Auch die Eisspezialisten schaffen sich ein Highlight: Fort Ridge neben einem frisch entstandenen, etwa hundert Meter langen Presseisrücken. Diese kleinen Eisgebirge wurden zumeist als kompakte, leblose Masse betrachtet. Über ein genügend großes Loch konnte ein Roboter mit Kamera und angehängtem Netz die Unterseite erkunden, und siehe da: In den Eislücken leben viele Algen, Plankton, kleine Fische; sogar Polardorsch wurde gesehen – Material für das Team Eco, das die Artenvielfalt bestimmt.

Nach dem ersten Driftabschnitt war die Polarstern etwa 200 Kilometer vorangekommen, aber wegen des Zickzackkurses und vielen Schleifen betrug die tatsächlich zurückgelegte Strecke 720 Kilometer. Inzwischen hat sich die dritte Crew mit der Eisscholle vertraut gemacht, die sie nicht bei Tageslicht sehen konnte und mit deren Überraschungen sie zurecht kommen muss. Kein Außenposten der temporären ScienceCity ist ausgefallen. Schon jetzt füllt eine riesige Datenflut die Speicher der beteiligten Institut, die der Auswertung harrt. Indes beeinflusst die Ausbreitung des Coronavirus nun auch den Verlauf der Expedition. Nicht dass sich jemand angesteckt hätte, aber wegen der norwegischen Einreisesperre und Quarantäne-Verpflichtungen müssen die von Spitzbergen aus geplanten Messflüge zur Erforschung der Atmosphäre und des Meereises ausfallen.

Neues Deutschland, 21.3. 2020

 

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